Gewalten by Clemens Meyer

Gewalten by Clemens Meyer

Autor:Clemens Meyer [Meyer, Clemens]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
Tags: Tagebücher
ISBN: 9783104007120
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2011-09-29T22:00:00+00:00


Tribünen

I

Das Pferd ist ohne Reiter. Es galoppiert mit den anderen Pferden, bleibt in dem Pulk, weiß nicht, was es sonst machen soll, galoppiert im Vorderfeld, pilotenlos, den anderen folgend, die von ihren Piloten angetrieben werden, Mensch und Tier verschmelzen, die bunten Renntrikots und Kappen und die braunen oder schwarzen Leiber der Pferde, 1500 Meter, und nur dieses eine, Superstar, Wallach, entmannter Hengst also, auf sich als Tier allein gestellt, dunkel und langgestreckt im Galopp, und wir sehen den Jockey, T. Schurig (das T. für Tom oder Thomas), zurück zur Startbox laufen, enzianblau leuchtet sein Trikot, das Oberteil seiner Rennbekleidung (enzianblau schreibt die Sportwelt), wir sitzen auf der anderen Seite der Bahn auf der Tribüne, ein Stück neben uns, in einem abgesperrten Teilbereich, der Rennkommentator auf einer Art kleinem Balkon, ein riesiges Fernglas vor seinem Gesicht, mehrere Mikrofone vor ihm, und wir hören seine Stimme nicht aus seinem sich pausenlos bewegenden Mund, sondern scheinbar etwas zeitverzögert (um eine tausendstel Sekunde, aber das kann nicht sein, das wäre doch nicht wahrnehmbar) aus den zahlreichen Lautsprechern unten auf der Wiese zwischen Tribüne und Bahn, die fast alle auf uns gerichtet sind, Völker höret die Signale, »... Superstar reiterlos geworden direkt nach dem Start, vor ihm Prachomius in zweiter Position, Orange Sky dicht auf, vorne hat immer noch For Pro mit einer Länge das Kommando ...«

Wir sind ruhig, ganz ohne Fieber, beobachten, wie das Feld in die Zielgerade einbiegt, Superstar immer noch hinter den ersten beiden galoppierend, läuft sein verlorenes Rennen weiter und bis zum Schluss, und auch für uns ist es verloren, seit der Jockey fiel und sich nicht halten konnte, als er mit Superstar aus der Startbox brach, der Knall der aufspringenden Türen wie ein Startschuss, bereit, dieses Rennen für uns auf 1 oder 2 oder 3 zu beenden, wir hätten nicht mal einen Sieg gebraucht, aber ihr habt’s uns schon auf den ersten Zentimetern versaut, nein, wir sind ruhig, dieser Zwischenfall wird unsere Planungen, Berechnungen und unser Glück nicht zu sehr beeinflussen, erstes Rennen, knapp dreißig Euro im Topf, eher in der (Klo-)Schüssel jetzt, eine Kombinationswette, Dreiereinlauf, aber noch sieben Rennen offen, Halle/ Saale, 22.August, die hellen Plattentürme der Neustadt hinter den Bäumen.

Die Pferde beim Ausgaloppieren, die Jockeys entspannen sich, richten sich auf, reden miteinander, eine junge Amateurreiterin hat den Favoriten Pixie Dust (nur) auf Platz 3 gesteuert, Superstar immer noch mitten unter den Pferden, weniger schweißglänzend als die anderen, weil er niemanden tragen musste, nur die Bleiplatten mit den Gewichten in den Satteltaschen, eine Frau läuft über die Bahn, Zaumzeug und Lederriemen über ihre Schulter gelegt. Ich sehe den Wallach Orange Sky, der lag nicht allzu weit zurück hinter den ersten drei, vor ein paar Monaten ging er in Leipzig mit einer ganz guten Quote an den Start, die Nummer 12 in diesem Rennen, meine Frau, oder war es jemand anderes?, sagte mir am Telefon, ich soll auf die Nummer 12 setzen, warum?, ist nur so ein Gefühl, Quersumme 3, 3 ist meine Glückszahl, setz auf Sieg!, gut, sagte ich,



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